
Ursprung und Ziel des Yoga
Yoga hat sich als Trainingsmethode und Entspannungstechnik etabliert und verschiedene Untersuchungen haben sein gesundheitsförderndes und therapeutisches Potenzial belegt. Weniger bekannt sind hingegen die Ursprünge und die Ziele des Yoga.
Der Ursprung des Yoga liegt in den asketischen Milieus des antiken Indiens weit in vorchristlicher Zeit. Seine Frühformen entstanden unter dem Einfluss des Urbuddhismus sowie weiterer geistiger und philosophischer Strömungen dieser Epoche. Im Wesentlichen handelte es sich um Techniken, mit denen geistige Versenkungszustände erreicht werden konnten, also Phänomene, die modern als veränderte Wachbewusstseinszustände bezeichnet werden.
Der ursprüngliche Yoga umfasst sowohl fein ausgearbeitete Landkarten innerer, unbekannter Bewusstseinsräume als auch ein breitgefächertes Arsenal an Lebens- und Verhaltensregeln sowie mentaler Praktiken, diese Räume zu betreten und zu erschliessen. In fortgeschrittenen Stadien der Praxis geht es schliesslich darum, in der tiefen mystischen Versenkung, eine bestimmte geistige Arbeit zu vollziehen, die schliesslich zu dem führt, was mit dem Begriff Moksha oder mit ähnlichen Ausdrücken bezeichnet wird. Diese können als «Befreiung», «Erlösung» oder «Erwachen» übersetzt werden. Am Ziel des Yogaweges steht also, was im christlichen Abendland gelegentlich als das «Leben in der Einheit» oder das «Aufgehen im Absoluten» bezeichnet wird.
Bei den Frühformen des Yoga handelte es sich um geistige Disziplinen, bei denen Konzentration und Meditation eine grosse Rolle spielten. Auf eine gute Sitzhaltung (Lotossitz) wurde zwar als unerlässliche Hilfe für die Realisierung höherer Bewusstseinszustände grossen Wert gelegt und auch respiratorische Übungen hatten ihren Platz als Mittel der Bewusstseinserweiterung, doch eine eigentliche Körperarbeit oder gar Körperbetonung, wie man sie heute mit dem Begriff Yoga assoziiert, gehörte nicht zum System.
Hatha Yoga
Der gegenüber den Frühformen rund eintausend Jahre jüngere Hatha Yoga verschob das Gewicht merklich: Die Körperertüchtigung spielte hier eine wichtige Rolle. Es ging jedoch nicht um eine Körpererschulung im sportlichen Sinn, sondern vor allem darum, eine überdurchschnittliche Gesundheit verschiedener Organsysteme, vor allem aber des Nervensystems herbeizuführen. Gleichzeitig hatte die tantrische Sicht auf den Körper, nämlich ihn als den Sitz göttlicher Wesenheiten und Energien aufzufassen, eine zentrale Bedeutung.
Die Hatha Yoga Praxis sollte dazu führen, innere physische Energien zu erwecken, zu stauen, zu lenken und «aufsteigen zu lassen». Vorbereitend zu diesem Zweck wurde der Körper gereinigt, gekräftigt und gedehnt. Es spielte auch die alchimistische Idee hinein, den Körper soweit innerlich umzuwandeln, dass dieser – besonders das Nervensystem – in der Lage wäre, die Entfesselung latenter Energien gefahrlos zu verkraften. Auch mit diesen Praktiken sollten dann überbewusste Zustände oder im Jargon «Kundalini-Phänomene» erfahren werden können. Die eigentliche Erlösung trat hinter den energetischen Erlebnissen eher zurück. Der Hatha Yoga selbst betrachtete sich stets nur als Vorbereitung für die überweltlichen Befreiungswege.
Der moderne Körperyoga
In der Begegnungssituation von Indien und dem Westen wurde der Yoga im zwanzigsten Jahrhundert weitgehend profanisiert und auf Bodybuilding, Gymnastik, Sport und Tanz hin orientiert und medizinisch verwissenschaftlicht. Dies erst ermöglichte die weltweite Akzeptanz und Ausbreitung und das Ankommen in der Mitte der Gesellschaft. Diese Entwicklung hatte aber auch ihren Preis: Dadurch, dass die modernen Spielarten des Yoga weltlichen und teilweise sogar sehr oberflächlichen Zwecken dienen, sind die Kenntnisse verloren gegangen, wie sich mit Yoga das Innenleben des Menschen neu konstellieren und seine geistigen Potenziale realisieren lassen.
Zurück zum Ursprung in der heutigen Zeit
Ein Yogaweg, der in der heutigen Zeit den ursprünglichen Zweck erfüllen will, muss sich von vielen populären Vorstellungen verabschieden und den Körper wieder als Hilfsmittel erkennen, Entwicklungen im Bewusstsein zu begünstigen und zu ermöglichen. Zu diesem Weg wird eine Schulung gehören, die über weite Strecken hinweg in ashramähnlichen Retreatsettings ohne Ablenkungen ablaufen muss, so dass der notwendige Konzentrationsgrad erreicht werden kann, um Hindernisse im mentalen Raum zu überwinden und eine erste Schwelle hinein in mystische Erfahrungsdimensionen zu überschreiten.
Weiterhin müssen die Übungen, die teilweise dem Fundus des Hatha Yoga entlehnt sein können, in einer Weise ausgewählt und in einer genügenden Intensität praktiziert werden, dass sie den Transformationsprozess des Yoga in Gang bringen. Schliesslich ist es wichtig, auf diesem Weg ein gutes Stück lang sowohl von Lehrern als auch von gleichgesinnten Gefährten begleitet zu werden, die einem in Phasen psychischer Ermüdung, mit denen man auf dem anspruchsvollen Weg unweigerlich konfrontiert wird, neue Zuversicht und neue Energie verleihen können.

Neben seiner Tätigkeit als Leiter Management- und Organisationsentwicklung in einem grossen Unternehmen führte Reto Zbinden während sechs Jahren ein Yogastudio in der Stadt Bern und veranstaltete Yogaseminare im In- und Ausland. 1994 zog er sich aus der Wirtschaft zurück und gründete die Yoga University Villeret, wo er seither sämtliche Ausbildungsklassen als Hauptkursleiter begleitet. Reto Zbinden ist Herausgeber des Schweizer Yoga Journals und Autor zahlreicher Artikel. Sein Weg wurde geprägt durch die persönliche Unterweisung von Selvarajan Yesudian und Sri Satchidananda Yogi, der Auseinandersetzung mit dem Schrifttum von Theos Bernard sowie der theravadabuddhistischen Meditation, die er unter anderen in Klöstern Burmas vertiefte.